Fast täglich bin ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs. Insbesondere in Hamburg ist die Flächenabdeckung und Taktfrequenz derart bequem, dass es geradezu umständlich wäre, mit dem Auto zu fahren. Ein weiterer Pluspunkt ist zudem, dass man sich weder um Parkplätze noch Stau kümmern muss.
Im engmaschigen S-Bahn- und U-Bahnnetz lassen sich fast alle Orte in Hamburg einfach und schnell erreichen und auch die Busse fahren in Hamburg vergleichsweise oft.
Selten steht man länger als zehn Minuten an einer Bushaltestelle und die Bahnen fahren zu Stoßzeiten alle paar Minuten.
Nun sollte man meinen, dass die Hamburger zufrieden mit ihrem ÖPNV sind und glücklich lächelnd Bus und Bahn fahren. Doch seltsamerweise scheint eher das Gegenteil der Fall zu sein.
Miesgelaunt wird an den Haltestellen auf den nächsten Anschluss gewartet und sinnentleert in die Richtung gestarrt, aus der das Gefährt sich in Kürze nähern wird.
Der Muster-Fahrgast im ÖPNV
Um ein echter Hamburger im ÖPNV zu sein, muss man die verschiedenen Stufen des öffentlichen Personennahverkehres meistern. Das ist bei weitem kein leichtes Unterfangen! Daher hoffe ich es Dir mit meiner nun folgenden Auflistung etwas leichter zu machen. Zur Orientierung kannst Du Dir bei Deiner nächsten Fahrt Punkte für die einzelnen Stufen vergeben. Wer die meisten Punkte hat, gewinnt! Messe Dich auch mit Deinen Freunden!
Beginnen wir mit Stufe 1:
Stufe 1: das Warten
Bereits das Warten an der Bushaltestelle oder auf dem Bahnsteig kann zu einer Kunstform erhoben werden. Nur eine Kleinkunstform zwar, aber immerhin.
Am besten ist es, wenn Du Dich strategisch vor etwaig vorhandenen Fahrplanaushängen oder Infotafeln positionierst und ignorant auf Dein Handy starrst (je 1 Punkt).
Ist dies nicht möglich, wäre dies der ideale Moment um einen alten Freund anzurufen und während des Telefonieren nervös auf und ab zu laufen – schließlich sollten ja alle Wartenden zumindest Burchstücke vom Gespräch mitbekommen (1 Punkt). Einen Pluspunkt gibt es, wenn Du dabei rauchst und zwei Pluspunkte, wenn Du einen Verdampfer mit viiiel Dampf benutzt.
Wer auf all das keine Lust hast, kann sich natürlich auch einfach, wie eingangs beschrieben, wie ein Zombie aufstellen und sein Hirn abschalten (0 Punkte).
Kombiniere mehrere Möglichkeiten, um mehr Punkte zu bekommen.
Mögliche Punkte dieser Stufe: 4 Punkte.
Stufe 2: das Einsteigen
Noch bevor sich die Türen öffnen, hat sich davor bereits eine Traube, oder eher ein Knäuel von Menschen gebildet, die darauf drängen, endlich eintreten zu können. Sei unbedingt ein Teil davon (1 Punkt)!
Gesittete Schlangenbildung vor dem Einstiegsbereich? Fehlanzeige! Lieber drängt man sich dicht an dicht direkt vor den Türen.
Wichtig ist hierbei zu wissen, dass bei Bussen in Hamburg gilt: vorne einsteigen und Karte vorzeigen, hinten nur aussteigen. Kenne die Regeln, um sie zu brechen! Denn dies muss natürlich ignoriert werden (1 Punkt). Deine Fahrkarte brauchst Du auch nicht vorzuzeigen. Einfach selbstbewusst und erhaben am Busfahrer vorbeilaufen (1 Punkt).
Den Aussteigenden wird selbiges bestmöglich erschwert und dabei gepöbelt, was das Zeug hält (1 Punkt). Schließlich möchtest Du endlich einsteigen und Dein Ziel erreichen.
Mir vergeht manchmal schon die Lust am Busfahren, wenn ich daran denke, mit wie vielen schlecht gelaunten Menschen ich es wohl wieder zu tun haben werde.
Sichere Dir mit diesem Trick satte drei Bonuspunkte: steige vorne ein, aber nicht als letzte Person und ordere beim Busfahrer einen Einzelfahrschein. Stehe dabei aber so im Weg, dass niemand sonst einsteigen kann und ignoriere höfliches Bitten. Sage kurz nach der Fahrkartenbestellung, wenn der Busfahrer schon etwas eingegeben hat, dass Du bis zur Station X fahren möchtest, die selbstverständlich nicht auf der Route des Busses liegt, sodass Du wieder aussteigen musst. Drehe Dich dann hektisch um und remple alle Einsteigenden zur Seite (3 Bonuspunkte).
Wichtigstes Take-Away dieser Lektion: Hektik verbreiten! Es muss alles ganz schnell gehen, sonst fährt der Bus/die Bahn ohne einen ab!
Mögliche Punkte dieser Stufe: 7 Punkte.
Stufe 3: die Fahrt
Kommen wir zur Königsdisziplin des ÖPNV – der Fahrt an und für sich.
Hat man den Einstieg in das Gefährt erfolgreich vollzogen, bleibt man idealerweise direkt im Einstiegsbereich stehen (1 Punkt) und sondiert in Ruhe die Lage. Vielleicht lässt sich ja irgendwo noch ein freier Sitzplatz erspähen.
Dabei ist es außerordentlich wichtig, die Menschen zu bepöbeln, die sich an Dir vorbeidrängeln wollen (1 Punkt). Haben die denn etwa keine Geduld?
Wurde der Fahrgastwechsel erfolgreich vollzogen, könntest Du Dich als Fahrgast nun entspannen und die Fahrt genießen – möchte man meinen!
Aber weit gefehlt! Denn auch hier hat der echte Hamburger diverse Pflichten zu erfüllen:
Du muss unbedingt schlecht gelaunt dreinschauen oder, wenn das nicht geht, zumindest sinnentleert ins Nichts starren.
Wenn Du etwas zu Essen dabei hast, hast Du nun die einmalige Gelegenheit Deine Speisen zu verzehren. Dabei ist es unerheblich, um was es sich im Einzelnen handelt. Wichtig ist nur, dass es möglichst laut verzehrt wird (1 Punkt) und es idealerweise zu einer Geruchsbelästigung (1 Punkt) kommt. Mir wurde bereits das zweifelhafte Vergnügen zu Teil, Zeuge diverser Leckereien zu werden:
- Brötchen, direkt aus der raschelnden Tüte stückchenweise verzehrt
- Natürlich der Klassiker: Döner mit viel scharf und extra Zwiebeln
- Dagegen eher harmlos: das Mettbrötchen
- Pizza aus dem Karton
- Und, mein persönliches Highlight: Grillhähnchen mit den Händen verspeisen! (1 Bonuspunkt)
Wenn Du nichts zu essen dabei hast, musst Du etwas improvisieren, daher hier noch ein paar weitere Tipps zum unmöglichen Verhalten im ÖPNV:
- Positioniere Dich ungünstig, mitten im Weg (1 Punkt)
- Mache Dich möglichst breit (breitbeinig sitzen, neumodisch manspreading genannt, 1 Punkt)
- Höre laut Musik (nein, nicht über Kopfhörer (0 Punkte)! Direkt über den eingebauten Handylautsprecher oder eigens mitgebrachte Lautsprecher, 1 Punkt)
- Telefoniere möglichst laut (ideal sind Streitgespräche oder der neueste Tratsch, 1 Punkt)
- Lege Deine Tasche auf dem Sitz neben Dir ab (1 Punkt)
Im weiteren Verlauf der Fahrt darf die Konzentration jedoch nicht nachlassen! Man muss stets ignorant und schlecht gelaunt bleiben, denn jederzeit könnten Mitmenschen an einem vorbei wollen oder ältere Menschen spekulieren auf einen Sitzplatz! Einfach ruhig bleiben und auf das Handy starren. Dann hört es irgendwann von selbst auf.
Sollten während Deiner Fahrt andere Menschen aussteigen wollen, stelle Dich dumm. Ignoriere sie oder gehe zwar beiseite, stelle Dich dabei aber an anderer Stelle wieder in den Weg. Natürlich unbeabsichtigt (1 Punkt). Verlasse auf keinen Fall das von Dir eroberte Gefährt, um andere aussteigen zu lassen oder mache gar Platz für Kinderwagen/Rollstuhlfahrer (-3 Punkte)!
Durch schlaues Kombinieren kannst Du auf dieser Stufe satte 10 Punkte erreichen!
Stufe 4: das Aussteigen
Auf der letzten Stufe, die es zu absolvieren gilt, wird das Dilemma des ÖPNV-Fahrgastes am deutlichsten. Denn hier kollidiert man mit den Mitmenschen, die sich gerade an Stufe 2, dem Einstieg, versuchen. Naturgemäß kommt es hier zu Konflikten und im Folgenden möchte ich versuchen zu beschreiben, wie man diese bestmöglich eskalieren kann.
Die Einsteigenden versuchen natürlich, das Gefährt schnellstmöglich zu betreten, während man selbst vor der Herausforderung steht, selbiges zu verlassen. Doch wer jetzt denkt, es wäre klug, sein Ansinnen frühzeitig zu erkennen zu geben, ist einem Irrtum erlegen. Hier ist Köpfchen gefragt, denn: die Mischung macht’s!
Hebt man kurz vor dem Halt sein ignorantes Haupt und erblickt dabei bereits Menschen, die sich am Ausgang in Position bringen, so kann man sich entspannen und ihnen den ersten Konflikt überlassen.
Lasst sie in Ruhe mit den Einsteigenden kollidieren (1 Punkt) und die ersten Hasstiraden ausrufen (1 Punkt)! Denn Deine Stunde wird noch kommen!
Sobald Du bemerkst, dass der Erste einen Fuß in die Bahn/den Bus setzt, stehst Du auf und drängelst Dich schimpfend (1 Punkt) in Richtung Ausgang. Murmele dabei undeutlich, aber laut genug, Sätze wie „erstmal aussteigen lassen!“ oder „ein Benehmen ist das hier!“ – je passiv-aggressiver, desto besser! Beim Aussteigen musst Du Dich so breit wie möglich machen (1 Punkt). Stelle am Besten auch Deine Ellenbogen aus und versuche so viele Menschen wie möglich anzurempeln. Je mehr Rempler, desto mehr Punkte (pro Rempler 1 Punkt)!
Auf der letzten Stufe kannst Du mehr als 3 Punkte erreichen (je nach Anzahl der Rempler)!
Fazit
Wenn Du Dich an meine Empfehlungen hältst, kannst Du durch rücksichtsloses Verhalten im ÖPNV mehr als 25 Punkte erhalten und fügst Dich so perfekt in das Stadtbild Hamburgs ein! Herzlichen Glückwunsch, Du bist ein Arschloch!
TLDR; kleiner Nachtrag:
Dieser Artikel sollte eigentlich wesentlich positiver ausfallen und auf ein Ereignis in Frankreich eingehen (siehe Tweet).
Dort haben sich die Fahrgäste in einem Bus nämlich ähnlich verhalten, wie ich es oben geschildert habe. An einer Bushaltestelle wollte der Rollifahrer François Le Berre zusteigen, doch die Leute haben den dafür vorgesehenen Platz im Bus nicht freigegeben und sich geweigert, ein wenig zusammenzurücken. Da hat der Busfahrer kurzerhand alle zusammen vor die Tür gesetzt und nur den Rollifahrer befördert.
Ich wollte einen Artikel schreiben, der an den gesunden Menschenverstand appelliert und der um rücksichtsvolles Verhalten und ein wenig mehr Freundlichkeit im ÖPNV bittet. Aber irgendwie sind dann die Pferde mit mir durchgegangen und ich erinnerte mich an all die Situationen, die ich beim Bus- und Bahnfahren schon erlebt habe.
Also, sehe die von mir zusammengetragenen Beispiele nicht als Anleitung, um möglichst viele APs (Arschloch-Punkte) zu sammeln, sondern sehe sie als Chance aufzuwachen und ein besserer Mensch zu werden, in dem Du eben jene Punkte vermeidest. Derjenige mit den wenigsten ÖPNV-Punkten gewinnt und darf seine Fahrkarte behalten!
Allzeit gute Bus- & Bahnfahrt!